II. Welcome to Pink City von Tobias Steinfeld (Hausbesuch in Erkelenz)

Ich fahre durch Wohngebiete, komme an einer gut erhaltenen Burganlage vorbei, sehe einen Kirchturm, der hinter der historischen Stadtmauer aus rotem Gestein, hervorlugt. Als ich das Auto auf dem Parkplatz abstelle, regnet es Bindfäden. Eine Frau um die vierzig spaziert durch den Regen, als wäre er nicht da. Sie trägt einen knallpinken Wollpullover. Kein Schirm, keine Kapuze. Vielleicht ist Erkelenz so was wie Island, denke ich. Da gibt es auch Kraterlandschaften und der ständige Regen stört die Menschen auch nicht. Sie mähen im Regen Rasen, spielen Golf und so weiter.

Ein Mann stellt sein Fahrrad quer auf dem Parkplatz vor mir ab. In Düsseldorf bräuchten die Fahrradaktivisten Monate, für die Planung einer solch progressiven Nummer. Die sozialen Netzwerke würden sich überschlagen vor Glück und Wut. In Erkelenz schnöder Alltag.

Der Regen stoppt, ich suche junge Menschen. Finde in den Gassen Bestattungsunternehmen, Sanitätshäuser mit Rollatoren im Schaufenster, Versicherungsbüros, Hörgeräteakustiker, Brillenstudios, ein Reformhaus, ein geschlossenes Sportgeschäft.

Doch da, plötzlich: Schülergasse, steht auf einem Straßenschild. In naiver Vorfreude biege ich ein – keiner da. Ich lese ein Plakat. Bald finden die Erkelenzer Grillmeisterschaften statt, komme ins Grübeln. Neulich war ich in Herzogenrath, gar nicht weit von Erkelenz. Als ich ankam, war ich schockiert: Über so viel Leerstand, so viel grau, über so wenig Leben. Dann traf ich die Jugendlichen zum Workshop und ich war begeistert: Von so viel Talent, so viel Aufgeschlossenheit, und davon, dass sie ihre Heimat so sehr liebten. In diesem Moment bin ich mir sicher: Die Erkelenzer werden ihre Grillmeisterschaften lieben, und ihre Stadt erst recht, die beschauliche Fußgängerzone zum Beispiel. Ihnen wird es gut gehen hier, und sie sind ganz tolle junge Menschen. Das muss ich nur noch beweisen.

Ein Copyshop wirbt in pinker Schrift für Abi-Shirt. Der nächste Hinweis darauf, dass es sie gibt. Und dann das erste Exemplar: In einem grauen SUV sitzt ein blasser Vierzehnjähriger auf dem Beifahrersitz neben seiner Mutter. Sie trägt ein pinkes Halstuch. Wo sie ihn wohl hinbringt? Und wieso trägt fast jeder hier etwas Pinkes? Ein silberner Golf kommt aus einer Nebenstraße. Ein Mädchen hockt auf dem Beifahrersitz, noch keine 18, auch seltsam blass. Zwei, zähle ich in Gedanken.

Ich komme an einer Ballettschule vorbei, fotografiere das pinke Schild, drehe mich um, aus dem Haus gegenüber beobachtet mich reglos eine ältere Dame, versteckt ihr Gesicht hinter einer pinken Orchidee. Irgendwas stimmt hier nicht.

Ich gehe zur Stadtbibliothek, die geschlossen hat, klopfe am Seiteneingang. Frau Schneider öffnet mir. „Es sind Ferien“, sagt sie. „Und es ist noch zu früh. Aber versuchen Sie es mal am Parkhaus, das ist ein Treffpunkt für Jugendliche.“ Es ist halb drei. Beim Parkhaus ist niemand.

Ich komme an einem Sportplatz vorbei, höre eindeutig schreiende Jungs, will das Gelände betreten, da steuert ein Bauarbeiter auf mich zu. „Hier geht’s nicht weiter!“ Mein Blick fällt auf eine pinke Tulpe, die vor einem Baugerüst steht. Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht.

Die Sonne kommt raus, Menschen flanieren über das Kopfsteinpflaster des historischen Marktplatzes. Nur die Jugend schläft noch oder sitzt auf Beifahrersitzen oder wird von Bauarbeitern abgeschirmt.

Endlich: Zwei Mädchen, um die 18, kommen aus dem Reisebüro, sie schlagen ein, haben offenbar gerade gebucht und beschließen, das mit einem Eis zu feiern. Sie bestellen „drei Kugeln zum Hieressen.“ Plötzlich sind die Mädchen weg, wie vom Erdboden verschluckt.

Es ist kurz nach vier. Dönerläden leer, Shishabars leer. DM leer. Stattdessen überall pink. Schleifchen an Haustüren, die Schilder der Geschäfte, die Taschen, Mützen und Schals der Menschen.

Auf der Hecke vor einem Café liegt ein schwarzes Strickjäckchen von Primark, Größe 36. So was tragen jugendliche Mädchen, denke ich, setze mich ins Café. Sollen die Jugendlichen halt zu mir kommen. Ich beschließe den EJPS-Index zu bestimmen: ERKELENZER JUGENDLICHE PRO STUNDE.

Bestelle mir einen Tee. Die Bedienung knöpft mir zwei Euro Pfand für die Tasse ab, ein pinkes Haarband hält ihren Zopf zusammen. Wow, denke ich. Wo bin ich hier gelandet?

Ich schaue durchs Fenster auf das mädchenlose Primark-Jäckchen. Mir fällt die Geschichte einer Jugendlichen aus einem Workshop ein. Es ging um Außerirdische, die die Menschheit austauschen wollten. Mir schaudert es. Wie konnte ich so blind sein?

Dabei ist die Sache glasklar. Erkelenz ist unterwandert von Außerirdischen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Jugend auszutauschen. Und ich werde heute Zeuge dieses Verbrechens. Sie kommen vom Planeten Pinkus und fühlen sich wohl in Erkelenz: Garzweilers Krater ist nicht weit und erinnert sie an ihre ferne Heimat. Begonnen hat wahrscheinlich alles im Jahr 2009 als der erste Erkelenzer Ortsteil umgesiedelt werden musste, damit die RWE Power den Tagebau ausweiten konnte. Es kam zu jugendlichen Protesten und die RWE Power ließ ihre guten Kontakte zum Planeten Pinkus spielen. Ihr Auftrag an die Pinkurianer: „Die Jugend muss ausgetauscht werden!“

Für jeden Jugendlichen, den sie per Raumkapsel Richtung Pinkus schießen, kommt ein Pinkurianer nach Erkelenz, das unter der Hand bloß „Pink City“ genannt wird. Pinkurianer erkennt man daran, dass sie stets ein pinkes Accessoire bei sich tragen. Außerdem essen sie gerne Teetassen (Wir alle kennen ja die seltsamen Essgewohnheiten Außerirdischer zu genüge – man denke nur an Alf und die Katzen). Durch horrende Teetassenpfände versucht man in Erkelenz mittlerweile, den Konsum einzugrenzen.

Eine weitere Eigenart der Pinkurianer ist: Sie werden bei Regen nicht nass. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist mit Abstand das Abhalten von Grillmeisterschaften. Sie sind froh und glücklich diese Tradition auch fern ihrer Heimat, in Erkelenz, ausleben zu können.

Ich schaue mich um, will mehr erfahren über das dunkle Geheimnis. Schräg gegenüber sitzt ein Mann. Er holt sein pinkes Portemonnaie heraus. Eindringlich schaue ich ihn an, er erwidert unsicher meinen Blick. Entschlossen beiße ich in meine Teetasse. Er kommt zu mir rüber, hält mich für einen der seinigen. „Ich bin neu hier, muss mich noch einleben“, flüstere ich. Es ist, wie ich vermutete: „Teetassen bitte nur heimlich essen!“ Und ich erfahre noch mehr: Die Pinkurianer schlagen – wenn sie nicht gerade am Parkhaus wildern – vor allem in Reisebüros und Eisdielen zu. Die Entführer haben meist elterliche Gestalt, fahren die Jugendlichen in typisch deutschen Familienkutschen zum Sportplatz, der von Wächtern im Bauarbeiterlook gesichert wird. Nachts, wenn alle schlafen, starten von dort die Kapseln, gefüllt mit jungen Erkelenzern, Richtung Pinkus.

„Ich hab noch einen Termin“, sage ich. Beim Blick auf meine angeknabberte Teetasse läuft dem Typen der Geifer aus dem Mundwinkel.

Ich stehe auf.

„Eins noch“, sagt er. „Falls du mal auf die Idee kommen solltest, mit einem dieser Zweiräder zu fahren, park’s nicht auf den Parkplätzen für die Vierräder! Das hat schon mal Ärger gegeben.“

„Alles klar“, sage ich, verlasse das Café. Eine Wolke hat sich vor die Sonne geschoben. „Ain’t no Sunshine, when she’s gone“, denke ich.

Welcome to Pink City!

2/3

Tobias Steinfeld