Ich lebe. Ich blinzle und sehe in den Himmel. Es schüttet. Meine Kleidung ist schon längst durchnässt, mein Körper taub vor Kälte. Trotzdem bleibe ich hier. Kniend zwischen Laub und Moos, eine Hand auf einem glatten Material. Ein geschliffener Stein zwischen hunderten. Auf dem Stein steht etwas.
Louis Binder 1998 – 2018
Geliebter Bruder und Sohn
20 Jahre denke ich. 20 Jahre und so kurz davor, sein Glück zu finden. Meine Hand gleitet etwas an dem Stein entlang. Mit einem Finger fahre ich die Zahlen und Buchstaben nach, die gefühlvoll in den Stein gehauen wurden. Meine Lippen bewegen sich ein Stück, die Mundwinkel ziehen sich etwas nach oben. Ich lächle. Ich lächle den Stein an. Ich hatte ihm versprochen, nicht traurig zu sein, stattdessen zu lächeln. Ich hatte ihm aber auch versprochen, weiterzumachen, nicht stehenzubleiben und hier bin ich. Kniend vor seinem Grab, durchnässt, traurig, gebrochen, lächelnd, seit Stunden, alleine. Wie soll ich weitermachen? Wie soll ich denn nicht hier sitzen und um dich trauern, Bruder? Wie soll ich weiterleben? Atmen, wenn mir die Luft fehlt? Glücklich sein, wenn mir der Grund fehlt? Weitermachen, wenn mir der Wille fehlt? Lächeln, wenn mir die Kraft dazu fehlt? Mein Lächeln ist verschwunden, stattdessen laufen stille Tränen meine Wangen runter und vermischen sich mit dem Regen, bis man sie davon nicht mehr unterscheiden kann. Bis man nur noch sagen kann, dass ich traurig bin, weil ich vor einem Grab sitze. Bruder, ich habe etwas versprochen. Bruder, ich kann mein Versprechen nicht halten. Bruder, ich habe es versucht. Ich sterbe.
Marie