Steinphilosophie von Marcel aus Bad Driburg

Ich bin klein, grau und bedeutungslos. Ich werde getreten. Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Ohne Pause

Aber das ist OK so. Viel schlimmer sind die Tage, an denen ich gar nicht beachtet werde. Ich bin dreckig, mir ist kalt und ich habe heute wirklich keine Lust, in den Bach geworfen zu werden. Dort ist es noch kälter und noch dunkler. Ich habe Angst. Alles um mich herum ist so groß und so schnell, dass ich die Zeit vergesse.

Wer braucht heute noch Steine? Ich bin nutzlos, aber ich bin und das ist mein Problem.

Das ist mein Schicksal. Meine Bestimmung.

Schau dir die Steine in den großen, schicken und vor allem beheizten Läden an.

Sie sind so schön, wie sie funkeln. Sie sind so klar, dass ich mein eigenes armseliges Spiegelbild erkennen kann.

Ihre Erscheinung ist atemberaubend. Ich sehe keinen einzigen Kratzer.

Keinen einzigen Fehler.

Sie sind perfekt.

Makellos.

Wunderschön, und geliebt.

Zur gleichen Zeit im Schmuckladen.

Schau dir diesen Stein da draußen an. Er darf einfach Stein sein. Niemand hat Erwartungen. Keiner will ihn besitzen. Er wird nicht unter enormen Druck zusammengepresst und auf 1500° Celsius erhitzt.

Er wird nicht tagelang poliert und mit großen Messern geschliffen, bis er scheinbar perfekt ist.

Er muss nicht immer glänzen. Ihm wird keine Zahl zugeordnet, die seinen Wert definiert.

Er wird nicht einfach an den Höchstbietenden verkauft, um dann an den schwitzigen Fingern, eines fetten reichen Mannes zu kleben.

Jahrzehntelang. Ohne Ausnahme. Ohne Pause.

Bis er stirbt und du erneut an den Nächstbesten, dir unbekannten Reichen verkauft wirst.

Bis er nach und nach an Wert verliert.

Ein grauer Stein bleibt immer ein grauer Stein, aber ein Diamant verliert nach und nach, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr seinen Glanz.

Nicht wie der Stein da draußen.

Er ist frei.

 

 

Marcel