I. Sekt bei McDonald’s von Tobias Steinfeld (Hausbesuch in Wesel)

Endstation. Regen. Der Wind bläst mir ins Gesicht, als ich den RE 5 verlasse. Nicht nur ich bin heute zum Hausbesuch in Wesel, auch Tief Franz ist am Start. „Ausgang City“ steht auf dem Schild über der Treppe. Ich bin gespannt, ob es hält, was es verspricht. Immerhin bin ich hier im Auftrag vom Projekt „Land in Sicht“, das Jugendlichen in ländlichen Regionen eine Stimme verleihen soll.

In Wesel schreiben aber nicht die Jugendlichen selbst – ich schreibe über meine Eindrücke. Darüber, was junge Menschen mir hier erzählen, darüber, was ich aufschnappe, was ich von ihnen höre, sehe, was mir auffällt. Wer sind die Jugendlichen in Wesel? Was treibt sie um? Und: Gibt es sie überhaupt?

Da ist zunächst der Grasgeruch, der mir in der Unterführung in die Nase steigt. Auf dem Bahnhofsvorplatz ist kein Mensch. Die Regenrinne draußen läuft über, so sehr schüttet es. Erstmal zu McDonald’s, in der Hoffnung, die ersten Jugendlichen zu treffen.

Vor mir fragt ein Mädchen die Bedienung: „Welche Menüs gibt es?“

„Steht da oben“, raunzt die Frau hinterm Tresen zurück, ohne das Mädchen anzusehen. Hoffentlich vergrault sie die Jugend nicht, denke ich. Tut sie nicht, im Gegenteil: Ein Junge ist mit seiner Freundin da und bestellt „Zwei Classic“.

„Zwei Glas Sekt?“, fragt sie. „Du bist doch noch keine 18.“

„Zwei Classic“ wiederholt er jetzt deutlicher. Sie lachen.

Und seine Freundin sagt. „Der hat noch nie Sekt für mich bestellt. Soll der mal machen!“

Ich bestelle ein McChicken-Menü und fühle mich schwer an meine eigene Jugend erinnert, setze mich auf einen freien Platz. Am Nebentisch sitzt ein junges Pärchen einem Mädchen gegenüber. Alle sind ungefähr vierzehn, schätze ich. Das Mädchen erzählt von einem Lehrer, den sie „voll cool“ findet. „Meine Freundin steht sogar auf den“, sagt sie. Das Pärchen knutscht und kuschelt rum. „Hallo? Hört ihr nicht, was ich sage? Wie kann man nur auf Lehrer stehen? Der ist auch voll alt.“

„Voll ekelig“, sagt ihre Freundin.

„Ich hab das Gefühl, ihr hört gar nicht zu“, sagt das Mädchen. „Ich fühl mich richtig alleine hier.“

„Mach doch was mit deinem Handy“, sagt der Junge.

„Das ist nicht dasselbe“, sagt sie.

Stimmt, denke ich.

„Du brauchst auch nen Freund!“, sagt die eine, den Hals ihres Freundes umklammernd. „Was ist mit Cem?“

„Boah, ich hab ihm gesagt, er soll sich mal besser anziehen, schwarze Hose und Cappy, aber dann hab ich gedacht, wenn er so angezogen ist, vielleicht ist er dann viel zu süß für mich, weißt du, was ich meine?“

„Ja klar weiß ich das“, sagt ihre Freundin.

Ich weiß nicht, was sie meint und frage mich, was der Junge dazu denkt, aber der ist jetzt in sein Handy vertieft.

Zwei Mädchen kommen dazu und quetschen sich zu ihnen auf die Bänke. Alle vier Mädchen sprechen jetzt türkisch.

Der Junge packt sein Handy weg. „Boah, jetzt fühl ich mich voll alleine.“

„Wieso?“, fragt seine Freundin.

„Weil ich euch nich verstehe, vielleicht?“

Ich warte darauf, dass das Mädchen, das sich eben selbst noch allein fühlte, ihm jetzt die Retourkutsche verpasst und sagt: „Dann mach doch was mit deinem Handy!“ Aber so ist sie nicht drauf. Sie sagt: „Okay! Lass Deutsch sprechen.“

„Wir müssen den 82er kriegen“, sagt seine Freundin.

„Siehst du nicht, dass es regnet?“

„Die paar Meter.“

Die Drei verschwinden.

Ich bin gespannt, was die neu dazugekommenen Mädels so zu besprechen haben. Aber sie reden zu leise. Das Einzige, was ich verstehe, ist, dass die eine zur anderen ständig „Sei mal leise!“ sagt. Dann sagt sie: „Lass auch den 82er nehmen!“ Sie stehen auf und gehen.

Auch das Pärchen mit der Glas-Sekt-Bestellung hat den Laden zwischenzeitlich verlassen, kommt jetzt aber wieder rein. Der Junge quatscht den Typen an, der mit Schaufel und Besen den Müll vom Boden räumt. Die Drei kennen sich.

„Schon wieder da?“

„Sie hat keinen Schirm dabei.“

„Nehmt doch den Bus!“

„Welchen Bus?“

„82er.“

Nichts geht hier ohne den 82er.

„Habt ihr nicht nen Schirm für mich?“, fragt das Mädchen.

„Du kannst das hier haben und auf deinen Kopf setzen“. Er hält ihr das Kehrblech mit dem langen Stiel hin. Sie lachen.

Sie beschließt, ihren Vater anzurufen.

„Warum?“, fragt ihr Freund. „Lass uns den Bus nehmen.“

„Ich hasse den 82er“, sagt sie.

Ich verstehe die Sprache, die sie mit ihrem Vater spricht, nicht, nur drei Wörter, die sie in ihr Gespräch mischt, sagen mir was: „Fahrschule“, „Bushaltestelle“ und „okay“.

„Er ist noch auf der Arbeit,“ sagt sie dann.

Mittlerweile wimmelt es hier drin von Jugendlichen. Die meisten wahrscheinlich reingetrieben von Franz. Zwei Jungs essen schweigend Eis, einer hat beim Bestellen ein nasses Longboard unterm Arm, ein anderer Junge verzehrt nichts und versteckt sich hinter einer Säule, damit ihn das Personal, inklusive Reinigungskraft, nicht entdecken kann, was bedeutet: Er bewegt sich hinter angesprochener Säule hin und her wie in einer einstudierten Choreographie. Der Regen geht. Der Junge auch. Ich auch.

1/5 Fortsetzung folgt…

Tobias Steinfeld