Sylke nimmt mich mit in die „Endstation“, den größten Raum im Karo. Sofas stehen hier rum, Kicker, eine Tischtennisplatte. Wir stehen mit Mikro auf der Bühne. Um uns herum dreißig, vielleicht vierzig Jugendliche. Sie stellt mich vor, fragt, ob ich mal Lehrer war. Ich stelle klar: „Auf keinen Fall Lehrer!“ Die wichtigen Informationen aber sind: „Tobias will euch kennenlernen, er wird oben sein. Es gibt Kakao.“
Wir sitzen in diesen kippeligen Ikeastühlen unterm Dach und bechern einen Kakao nach dem anderen. Was sich bei Jenny angedeutet hatte, bestätigt sich. Es gibt Freizeitmöglichkeiten in Wesel, und viele Jugendliche nehmen sie wahr. Felix hat früher Fußball gespielt, geht heute boxen. Manchmal trifft er sich mit Freunden in der Stadt vorm Kaufhof. „Bisschen Rumlaufen, bisschen Chillen.“ Zef ist elf, trägt einen albanischen Adler auf der Strickmütze. Er geht regelmäßig zum Kickboxen, turnt, schwimmt. Außerdem rappt er. „Worüber?“, frage ich. „Wie man vom Krieg kommt“, sagt er. „Wie kommst du denn darauf?“ Freunde von seinem Bruder kommen aus Syrien und mussten fliehen, die rappen darüber. Morgen hat Zefs Vater Geburtstag. Zef hat eine Überraschung vorbereitet, er hat einen Text für ihn geschrieben, den er ihm vorrappen wird. Ich bin froh, hier zu sein.
Ich frage Flamur, 13, auch mit albanischen Wurzeln, was er gerne macht. „Alles außer Tanzen“, antwortet er. Flamurs Sätze sind pointiert, machen neugierig.
Es geht jetzt um die Bademöglichkeiten in Wesel. Vom Auesee ist die Rede und vom Freibad. Nur Flamur redet von der Rheinbrücke. „Letzten Sommer bin ich mit schwarzer Hose da rein.“
„Wie mit schwarzer Hose?“ Ich denke an das Mädchen von McDonald’s, das wollte auch, dass ihr Zukünftiger eine schwarze Hose trägt.
„Jeans“, sagt Flamur.
In Wesel ist „schwarze Hose“ also ein Synonym für Jeans.
Die Runde ist jedenfalls entsetzt, dass Flamur an der Rheinbrücke schwimmen war. Das heißt nämlich im Rhein. Da wo der Schiffsverkehr ist. „Das war lebensgefährlich“, sagt jemand.
„Okay“, sagt Flamur. Immer die richtige Antwort parat, denke ich, als er mich völlig überraschend fragt: „Kann ich zur Toilette?“ Hat mir wohl nicht abgekauft, dass ich kein Lehrer bin.
Annas Hobby ist das Tanzen. Sie twerkt. Ihre Tanzschule ist in Wesel. Vor drei Wochen ist sie nach Emmerich gezogen. In Wesel findet sie die Leute nett. „Emmerich ist viel asozialer als Wesel!“, sagt sie. Ich bin überrascht. Sylke auch. „Was ist denn asozialer in Emmerich.“
„Der Bahnhof.“ Jutta Heicks von der Stadtbücherei hat bisher lautlos der Runde gelauscht, mischt sich jetzt kurz und prägnant ein. „Stimmt“, sagt sie.
Anna will jedenfalls wieder nach Wesel ziehen.Vielleicht schon in ein paar Monaten, wenn sie 18 ist. Nach der Schule will sie dann zur Bundeswehr. Sanitäterin werden. Und später dann mal nach Berlin. „Da sind die Leute offener. Cooler. Da ist mehr los.“
Viel los ist in Wesel aber auch, finde ich. Zumindest mehr als ich dachte. Ins Karo kommen jeden Tag 60 bis 100 Jugendliche. Es gibt eine Spielekonsole (Letzte Woche wurde ein Controller geklaut, Zefs Fahrrad wurde übrigens auch geklaut, er weiß sogar von wem. Von Ronaldo, nicht der Fußballspieler), es gibt ein Küche, einen Fußballplatz, einen Musikraum mit Instrumenten, eine Werkstatt. Und draußen Hühner. Irgendwie romantisch, denke ich. Dann fällt mir der McChicken ein und ich schäme mich. Sylke bietet mir noch einen Kakao an. „Nein, danke“, sage ich.
4/5 Fortsetzung folgt…
Tobias Steinfeld