Unser Dachzimmer hat sich geleert. Ich sitze im Sessel und starre geradeaus. Die Unterhaltungen, das intensive Zuhören und Nachfragen, haben Spuren hinterlassen. Mein Hirn hat sich aufgehängt. Zwei Jungs kommen rein, setzen sich neben mich und kippeln mit den Rückenlehnen. Ich bin wenig aufgeschlossen, schaue sie nicht an. Frage die Jungs nichts. Ben fängt an zu erzählen. Ich höre nicht zu. Dann holt ein Satz mich aus meinem Standbymodus. „Das sah aus wie bei so nem Messi, also nicht wie bei Lionel Messi, sondern bei einem richtig Unordentlichen“, sagt Ben. Neben mir sitzt Tim, trägt eine Daunenjacke, umklammert die Box in seiner Hand, daneben Ben, trägt Cappy, beugt sich vor und rührt seinen Kakao um. Und er redet. Ben ist der erste, der mich etwas fragt (abgesehen von Flamurs Toilettenfrage). „Und du schreibst jetzt ein Buch über das, was wir hier erzählen, oder wie ist das geplant?“ Ich erkläre ihm, was ich vorhabe. Ben sollte in der Schule mal Tagebuch schreiben, er hat am wenigsten von allen geschrieben, erzählt er stolz. „Bloß ne halbe Seite.“ Dabei hat er viel zu erzählen. Vor allem aber hat er Talent zum Erzählen. Und er kennt sich aus in der Welt. Zumindest in seiner, die er immer mal wieder unfreiwillig erweitert: Für ein paar Monate musste er ins Heim, baut immer wieder zu viel Scheiße. Säuft Wodka in der Schule, Schlägereien, solche Sachen. Ben zockt einerseits ganze Nächte ohne Schlaf durch, andererseits trinkt er vor dem Schlafen noch sechs Dosen Monster und schläft dann durch. „Hat bei mir den gleichen Effekt wie Fanta ohne Kohlensäure“, sagt er. Ben ist Neuntklässler und resistent gegen Zucker und Koffein. Und er ist clever. Kommt das Jugendamt zu Besuch, dann weiß er vorher Bescheid und räumt die Bude auf. Einmal hatten er und sein Vater nicht aufgepasst und die Konsolenspiele ab 18 lagen herum. Die Leute vom Jugendamt haben sich beschwert. Ben hat daraufhin die Altersbeschränkung überklebt. Wo vorher „ab 18“ stand, steht jetzt „ab 12“. Das Jugendamt hat’s nicht gecheckt. Gerade macht er ein Praktikum. In der KfZ-Werkstatt. Den ganzen Tag in den Autos sitzen, Musik hören, chillen. „Der Chef geht zwischendurch mit seiner Freundin essen und kommt mit fetten Scheinbündeln zurück. Alles Geldwäsche.“ Ich glaube ihm, was er sagt. Zumindest glaube ich ihm, dass es seine Sicht auf die Dinge ist. Oder dass andere ihm diese Sicht vermitteln. Ich zeige Ben und Tim meinen Roman, weil die Hauptfigur, wie Ben auch, gerade ein Praktikum macht, und weil der Handlungsort eine Förderschule ist. Tim ist Förderschüler. Ben blättert durch die Seiten. „Willst du nen Tipp von mir haben?“
Ich nicke. „Klar.“
„Ich würd n paar Bilder reinmachen. Das finden die Leute interessanter.“
Mir fällt ein: Ich weiß noch gar nicht, was die Jugendlichen abends machen, nach acht, wenn das Karo schließt. Dafür weiß ich, dass hier ein Junge sitzt, der mir die Frage beantworten kann. „Saufen und kiffen“, sagt Ben. „In der Stadt gibt es auch viele Shishabars.“
„Und was willst du machen, wenn die Schule vorbei ist?“
„Entweder Bundeswehr oder Müllabfuhr“, sagt Ben. Aber dafür muss erstmal ein Schulabschluss her. Ich hoffe, er kriegt die Kurve.
5/5
Tobias Steinfeld