Und schon wieder stehe ich hier und frage mich, was das alles soll …
Warum bin ich noch hier? Warum bleibe ich hier? Was mache ich noch? Ich will doch weg von hier, weit weg und zwar schnell! Immer wieder, wenn ich durch die altbekannten Straßen laufe, werde ich von rechts und links von irgendwelchen alten Leuten angesprochen: Wie geht es dir denn? Groß bist du geworden. Ich hab dich lange nicht mehr gesehen! Wie läuft es denn in der Schule? Wie geht es denn deinen Eltern, die habe ich ja ewig nicht gesehen.
Und spätestens jetzt bin ich genervt! Die ganzen Fragen! Ach, die kennen mich doch gar nicht. Die kennen auch meine Probleme nicht. Aber was soll’s? Immer schön höflich bleiben, so tun, als würdest du dich freuen, alte Bekannte deiner Großeltern, deren Namen du nicht mal kennst, zu treffen und sich mich ihnen zu unterhalten.
Ich wollte doch nur schnell weg, Freunde treffen die im Hier und Jetzt leben, nicht immer nach meiner Vergangenheit fragen. Aber ich stehe immer noch hier, schön brav lächeln und Antworten geben auf die ganzen Fragen, und das möglichst perfekt. Ja mir geht es super, in der Schule ist es super, ja meinen Eltern geht es auch gut.
Okay, vielleicht war das alles nicht ganz so richtig, aber was soll man denn sagen? Ich will doch weg von hier, weit weg und zwar schnell! Außerdem kennt dich jeder, wenn du einem erzählst, wie es hinter dieser ach so tollen Fassade, die für jeden alten Bekannten in Perfektion aufgelegt werden kann, aussieht, dann spricht dich morgen jeder an. Alle, die neuen Nachbarn, die so neu auch nicht mehr sind, die Schülerlotsin, die jeden Morgen, tagein tagaus, die Kinder über die Straßen winkt, die alten Bekannten, die dir jedes Mal erzählen, wie süß du doch als kleines Kind gewesen bist und wie die Zeit rennt. Jeder kennt jeden, Neuigkeiten kann man nur schwer vor ihnen verbergen, du warst noch gar nicht auf der Straße, doch alle starren dich an. Anfangs traut sich niemand, etwas zu sagen: das arme zerbrechliche Kind und ihre Geschwister, sie sind doch noch so jung.
Alle sprechen übereinander, doch selten werden wir gefragt. Plötzlich bekommen die ganzen Fragen, die sich doch immer wieder wiederholen, einen neuen Glanz, sie werden nun geziert mit bemitleidenden Blicken und flachen Sprüchen. Es wird alles besser. Ihr schafft das schon. Das tut mir doch so leid. Das hätte ich nie gedacht. Doch ich kann euch sagen, das hilft uns nicht, es sind doch alles bloß leere Worte von mir fremden Personen. Und man beantwortet jede Frage nach der anderen. Mir geht es gut. Es ist besser so. Es wird alles wieder gut. Dabei schön lächeln, damit das Dorf beruhigt sein kann.
Aber nichts wird wieder so wie früher. Als man in den Sommernächten als Dreikäsehoch mit den Nachbarskindern loszog. Die meisten Häuser der Siedlung waren noch nicht gebaut. Es gab keine Straßen. Der Acker war noch gut zu erkennen, man fand immer mehr verborgenes Zeug im Garten, wenn man mal etwas tiefer grub, um einen Keller zu erschaffen.
Wir haben eine Siedlung erschaffen. Eine Siedlung neben vielen, nur der Name und das Alter unterscheidet sie. Aber trotzdem sind wir besonders, wir waren einzigartig, wir sind einzigartig. Aus dem so scheinbar Leblosen ist eine Siedlung entstanden, eine Siedlung in einem Ort vieler Siedlungen. Es ist eine Gemeinschaft entstanden, jeden Tag ein bisschen mehr. Meine ersten Freunde habe ich kennengelernt, bei uns im Block, meine ersten besten Freunde, direkt nebenan. Haus an Haus, dicht an dicht. Jeden Tag gab es was zu lachen, vielleicht zu weinen, wenn man pünktlich um sechs Uhr, wenn die Kirchenglocken läuteten, nach Hause gehen musste. Aber wir wussten, es geht weiter, wir kamen wieder, spielten auf den Straßen, es gab ja keine Autos, die dort fuhren.
Nein, es gibt keine Autos, die dort fahren, aber spielen tun wir jetzt nicht mehr auf der Straße. Jeder geht nun seinen Weg, der Eine mehr, der Andere weniger und trotzdem gehen wir ihn irgendwie zusammen. Wir sitzen immer noch hier, jeder in seinem Zimmer, vor den Straßen, auf denen wir lernten, Spaß zu haben, auf denen wir Roller fuhren, Fahrradfahren lernten, Seilchen sprangen und die Zeit gemeinsam vergaßen. Alles würde ich tun, um zu dieser so schönen, unbeschwerten Zeit zurückzukehren, aber das geht nicht und das ist gut so, denn das brauchen wir nicht. Wir leben im Hier und Jetzt, diese Zeit hat uns als Menschen geprägt, aber sie ist vorbei.
Es ist eine neue Zeit angebrochen. Diese neue Zeit wird uns auch prägen, aber anders. Wir gehen immer noch auf dieselbe Schule, fahren mit den gleichen Bussen, gehen durch die gleichen Straßen, aber wir sind anders. Wir verfolgen neue Träume, andere Träume als die Menschen, die hier vor uns lebten. Wir wollen neue Erfahrungen machen, viele Erfahrungen kann man aber bei uns im Dorf nicht machen, man wird gesehen, auf einen wird geachtet, man wird erkannt, dabei will man einfach nur in der Masse untergehen.
Ich weiß, ich werde diesem Dorf den Rücken kehren, vielleicht auch den Menschen, denn ich will frei sein, frei von alten Gedanken, die schon so lange in meinem Kopf rumschwirren, ich werde meine Vergangenheit hinter mir lassen und neu beginnen, neu in einem anderen Leben, in einem Leben ohne schlechte Busanbindungen, Kirchenglocken, die pünktlich um sechs zum Abendessen rufen und ohne die nervigen Fragen, sobald man vor die Türe geht. Wie geht es dir? Groß bist du geworden. Grüß deine Großeltern von mir! Ich lasse es hinter mir, entdeke eine Stadt, fern von meinem Heimatdorf. Weit weg.
Aber wer weiß, vielleicht werde ich heimkehren in meine gewohnten Straßen, in denen ich früher schon umherzog, vielleicht werde ich dies alleine tun, vielleicht begleiten mich Menschen und gehen einen Weg, wie ich ihn früher gegangen bin, vielleicht treffe ich dann auf Menschen, die sich fühlen, wie ich mich gerade fühle, wenn ich durch die Straßen ziehe. Wer weiß, vielleicht zieht es mich irgendwann zurück in mein Heimatdorf. Aber wie gesagt, es bleibt immer ein vielleicht.
Lisa