Die Tür knallt hinter mir ins Schloss. Sofort kommt Großvaters Stimme: „Sofia, hör auf, Türen zu schlagen!“ Türen. Als ob es die noch geben würde. Und sofort kommt das schlechte Gewissen, wie konnte ich mich nur so aufführen? Ich sollte unserem Land helfen. Besonders jetzt, im Krieg. Langsam öffne ich die Klotür und trete in den Flur, durch die leeren Türrahmen in die gute Stube. Opa sitzt auf dem einzigen Stuhl und funkelt mich böse an. Ich versuche ihn, bei meinem Weg durch die Stube so gut wie möglich zu ignorieren, aber das ist schwierig. Er hat diesen Blick, bei dem du dich sofort schuldig fühlst. Obwohl du nichts gemacht hast! Erst nachdem ich in der Küche stehe, traue ich mich, aufzuatmen. Mutter steht am Herd und kocht das Essen. Sie flucht leise. Kochen ohne Feuerholz ist schwierig. „Kann ich helfen?“, frage ich. Sofort kommt die Schimpftirade, die ich schon erwartet hatte. „Wie konntest du nur? Wie konntest du uns so in den Rücken fallen? Du Vaterlandsverräterin!“ Jetzt ist es wohl Zeit, die Wahrheit zu sagen: Ich, Sofia Magdalena Heinemann, habe meinem Bruder eine Ohrfeige verpasst. Hört sich erstmal nicht sehr schlimm an. Geschwister streiten sich doch dauernd. Aber hier war es anders. Mein Bruder ist immer noch ein glühender Verfechter der „alten Werte“ und heute Morgen hatte er die glorreiche Idee, einen Selbstmordanschlag auf „die Feinde“ zu begehen. Alle lobten ihn und sagten, was für ein vorbildlicher Junge er doch wäre, nur ich sprang auf, rief was für eine dumme Idee das doch wäre und gab ihm die berühmte Ohrfeige. Alle scholten mich eine Verräterin und ich rannte zur Toilette (der einzige Raum mit Tür), knallte die Tür zu und Ende der Geschichte. Dank Mutters kleiner (und sehr lauter) Ansprache wusste jetzt wahrscheinlich die gesamte Nachbarschaft, dass ich eine „Verräterin“ war. Und wenn es erstmal einer wusste, wusste es bald das ganze Dorf. Das ist der Fluch an kleinen Ortschaften. Wenn ich morgen zur Schule gehen würde, würden alle hinter meinem Rücken über mich tuscheln. Nur weil ich nicht wollte, dass mein Bruder stirbt! Ich muss hier weg. Ich will leben. Ohne eine Verräterin zu sein. Schnell packe ich einige Sachen zusammen, Klamotten, meinen Teddy, mein Tagebuch, ein Familienfoto. Einige Zeit schaue ich meine BDM-Uniform an. Mitnehmen oder nicht? Ich schließe meine Tasche und lasse sie liegen. Ich habe mit dem Nationalsozialismus abgeschlossen. Wer Jugendliche zu Selbstmordanschlägen animiert, mit dem will ich nichts zu tun haben. Ich laufe durch alle leeren Türrahmen und trete auf die Straße.
Hannah