1. Fragment
Ich stehe an einer Hauptstraße in einem kleinen Dorf – ein paar oder sehr viele Kilometer entfernt von Köln. Ich fühle mich normal. Alles wirkt normal. Entspannt. Vielleicht bin ich insgesamt zu viel Trubel gewöhnt. Denn hier wirkt alles irgendwie in sich ruhend. Das ist was anderes.
Ich erspähe einen alten China-Imbiss an der Ecke, ein Elektrofachgeschäft, dahinter ein Friseur. Daneben ein italienisches Restaurant, darauffolgend eine Postfiliale und direkt an einer Hausecke ein Eiscafé. Manchmal bekomme ich das Gefühl, dass Dörfer und Städte nach einer Schablone angefertigt wurden. Geh in ein Dorf und ich sage dir, was dort ist. Drei Menschen warten ungeduldig auf den Bus, zwei ältere Personen sitzen im Eiscafé.
Etwas weiter hinten ist der Dönermann. Dönermann, wieso sagt man das eigentlich? Wie hat sich das etabliert?
Jede Stadt hat ihre Döner-Bude. Dabei habe ich noch nie erfahren, wer diese Menschen sind, die da jeden Tag zu jeder Zeit den heißbegehrten Döner ihrer Stadt servieren. Man kriegt das einfach nicht mit. Dabei interessiert es mich ja schon mehr, als dort einfach nur mein Essen zu bestellen. Ich war schon immer neugierig, was so etwas angeht. Ich würde mich gern mal von Inhabern von Imbissen einladen lassen. Am besten zu großen Festen. So eine türkische Hochzeit vielleicht. Oder zum Kirschblütenfest. Oder ein Abend mit einer marokkanischen Familie. Das wäre was. Es sollte Gutscheine für sowas geben. Aber der Gedanke ist wahrscheinlich auch irgendwie vollkommen verrückt.
2. Fragment
Marokkaner. Türken. Deutsche.
Eine Straße. Drei Häuserblocks. Drei Nationen.
Zum Teil voneinander abgetrennt. Zum Teil für sich. Zum Teil nicht ganz durchschaubar.
3. Fragment
Ich habe Freunde und Bekannte aus allen Ecken der Welt. Lettland, Australien, Kanada, Jamaika, Georgien, Österreich und so weiter.
Die Künstlerszene macht da keine Unterschiede, wo du herkommst. Also, das hoffe ich. Im Prinzip kommt da jeder rein. Und jeder ist gern gesehen. Solange man sich respektiert. „Respect the poets“ sagt man beim Poetry Slam. Könnte man mit „Respect each other“ erweitern. Eigentlich.
4. Fragment
Romina wird Anwältin. Sie ist 18 Jahre alt und hat gerade ihr Abitur in der Tasche. Lange bleibt sie nicht mehr. Sie weiß, was sie will. Sie will nach Bonn oder vielleicht ins Ausland. Juristin werden. Ihre Mutter kommt aus Kasachstan. Ihr Vater ist Deutscher.
Gemeinsam gehen wir zum Dönermann.
5. Fragment
„Es ist gar nicht so leicht, alle unter einen Hut zu kriegen“ sagt Rolf am Ende eines langen Tages in einem Jugendtreff.
Im Inneren hört man Kinder lachen. Getöse. Einer weint. Zwei helfen. Dann geht’s wieder.
Draußen, auf einer alten Metallbank sitzen die älteren Jugendlichen. Hier gibt es natürlich klare Strukturen. Die Rangordnung. Wehe dem jüngeren Kind, das sich dieser Bank nähert. Das war schon bei mir zuhause als Kind so. Das ist immer so. Das wird wohl auch immer so bleiben.
„Hier gab es mal Kohle-Flöze. Gibt’s nicht mehr. Das ist bestimmt schon 50 Jahre her“, sagt Rolf. „Da wurde Kohle abgebaut. In Bergwerken. Die Türken, die Deutschen, die Marokkaner. Die Familienväter, da haben viele im Bergbau gearbeitet. Die Familien gibt’s hier immer noch. Hier im Jugendtreff kommen die kleinen zusammen. Fast alle“, sagt er. Das Spielen verbindet. Ich verstehe nicht, wie sich das später oft so sehr aufspaltet. Schade.
„Es gibt hier die ‚türkische Wiese’“, sagt Rolf. „Diese wird von den Marokkanern gemieden.“ Das ist doch bescheuert, denke ich.
Aber so ist das eben. Vielleicht müsste es da mehr Angebote geben, damit man alle einen Tisch holt. Vielleicht will das aber auch keiner. Vielleicht ist das sogar Wunschdenken.
Ich schaue mir das Treiben der Kinder und Jugendlichen an. Ich glaube, denen ist es so was von egal, mit wem sie da gerade spielen. Sie machen da keine Unterschiede. Noch nicht.
6. Fragment
Man sieht insgesamt aber weniger Jugendliche auf den Straßen spielen. „Joa, das Internet, ne“, sagt Nele, eine Sozialarbeiterin im Jugendtreff.
Heutzutage zocken die Jugendlichen lieber. Da bleiben sie eher drin. Das hab ich auch gemacht. So mit 16. Ich frage mich noch heute, ob das verschwendete Zeit war oder ob mich das im ganzen Schulstress nicht vor dem Verrücktwerden bewahrt hat.
Aber was sollen die Kinder auch machen. Das Schwimmbad ist weg, der Bolzplatz ist ein Acker. Wenn die älteren Jugendlichen feiern wollen, müssen sie ein paar Kilometer raus fahren. In die nächstgrößere Stadt.
7. Fragment
Da war einmal ein Dorf
Da kam man dann und wann zusammen
Man kann, man muss, man sollte sich vertragen
Man will, man sollte es aushalten
Wenn nicht alle gleich ticken
Wenn nicht alle gleich blicken
Dass es Unterschiede gibt
Die Frage ist
Ob das so bleibt
Von Zeit zu Zeit
Könnte sich was ändern
Kommt Zeit, kommt Rat
Und ich rate weiter
Ob es so sein muss
Und ob das alles nun mal so ist
Und wo die Unterschiede beginnen
Und wie man das alles greifen soll
8. Fragment
Und dann bin ich schnell am Ende angekommen. Ein bisschen schlauer vielleicht. Und auch mit mehr Fragen zurückgelassen. Wenn du einen Tag lang in ein Dorf kommst und mit Menschen sprichst, dann hast du Eindrücke. Viele, kleine Eindrücke, die man verarbeiten muss. Man erhält nichts Ganzes von einem Ort. Man erhält Fragmente. Viele kleine Puzzleteile. Ein paar Ahnungen von etwas. Ein paar Zukunftsträume und Wünsche. Einige Probleme. Und viel Gutes. Am Ende fehlt da immer noch ein Schwimmbad, am Ende sagen wir immer noch Dönermann, am Ende wird man oft nicht wissen, wer da gerade vor einem steht.
Am Ende bleiben Fragmente vom großen Ganzen. Vielleicht ist es entscheidend, dass man diese dann sammelt und zusammenfügt, um sich besser zu verstehen. Vielleicht sollte jeder von uns mehr nach Fragmenten suchen, um nicht zu einseitig zu berichten, allen zuhören, um etwas Größeres zu erschaffen. Klingt schön ein wenig pathetisch, das geb ich zu.
Ich kenne jetzt ein paar Fragmente eines Dorfes – ein paar oder sehr viele Kilometer entfernt von Köln. Das ist ja längst nicht alles, aber ein Anfang war es allemal.
August Klar