Merle war auf dem Weg nach Hause, als es plötzlich anfing zu regnen. Sie rannte so schnell sie konnte unter das nächste Abdach. Dank ihres langen Regenmantels mit der übergroßen Kapuze schaffte sie es, trocken zu bleiben. Doch was wäre, wenn sie auch nur von einem Tropfen getroffen würde? Sie bekam schon allein bei dem Gedanken daran große Panik. Schnell schob Merle den Gedanken beiseite und überlegte, wie sie nach Hause kommen würde, ohne nass zu werden. Nach kurzen Überlegungen entschied sie sich abzuwarten, bis der Schauer vorbei war. Laut ihrer Wetter-App konnte das nicht mehr lange dauern. Ohne ihr Smartphone mit der App, ohne ihren Regenmantel und ohne ihre Thermoskanne, die immer mit warmem Tee gefüllt war, ging sie nirgendwo hin. Selbst nicht im Hochsommer. Schon seit sie denken konnte, hatte sie Angst vor Wasser – vor kaltem Wasser. Mit warmem Wasser hatte sie kein Problem. Ob das mit ihrer Mutter zu tun hatte? Die mied es ebenfalls, mit kaltem Wasser in Berührung zu kommen. Nur ihr Vater war wie jeder andere normale Mensch und kam ständig mit Wasser in Kontakt. Dennoch hatten er und seine Frau Cate Merle schon viel über das Unheil erzählt, welches Wasser anrichten konnte.
Nach einigen Minuten hörte es auf zu regnen und Merle konnte nach Hause laufen. Mittags aß sie mit ihren Eltern Cate und Lewis Nudeln, dann ging sie hoch in ihr Zimmer.
Nachmittags kam ihre beste Freundin Nadja vorbei. Neben Cate und Lewis war sie die einzige, die über Merles Kaltwasserallergie Bescheid wusste. Da es Freitag war, durfte sie bei Merle übernachten. Sie guckten noch einen Film, aber schliefen dann ziemlich schnell ein. Sie schliefen auf dem Heuboden der alten Scheune, die früher mal Merles Opa gehört hatte. Beide schliefen so fest, dass sie den prasselnden Regen auf dem Scheunendach nicht hörten. Zudem pfiff der Wind um die Ecken der alten Scheune, als würde er vom Teufel gejagt werden. Plötzlich wurde ein Ziegel vom Dach geweht und kalter Regen tropfte genau auf Merle. Sie fuhr erschrocken aus ihrem Schlaf hoch und wollte gerade schreien, da spürte sie ein merkwürdiges Gefühl an ihren Beinen. Merle konnte nichts sehen, doch nach einem hellen Aufleuchten sah sie … einen Fischschwanz. Einen Fischschwanz??? Ja, tatsächlich. Er war grün und blau und schimmerte an manchen Stellen leicht golden. Keine Sekunde später schrie sie nach ihren Eltern. Da schreckte Nadja aus ihrem Schlaf hoch. Sie sah irritiert aus, als sie die wunderschöne Meerjungfrau auf Merles Bett sah. Nadja schien sich zu fragen, ob sie noch träumte. Aber als sie Begriff, dass es kein Traum war, sondern Wirklichkeit, klappte ihr Mund noch eine Kinnlade tiefer.
Da kamen Cate und Lewis ins Zimmer gestürmt. Beim Anblick ihrer Tochter stockte ihnen der Atem. Keiner sagte auch nur ein Wort. Man hörte bloß den Wind, der immer noch ums Haus pfiff. Nach einiger Zeit meinte Merles Mutter: „Ich denke, dass wir Euch einiges zu erklären haben.“ Nachdem Merle sich den Tropfen von der Stirn gewischt hatte, fühlte sie wieder dieses Kribbeln und der Fischschwanz verschwand. Sie gingen gemeinsam hinunter in die Küche und Cate fing an zu reden: „Also, ich bin eine … Meerjungfrau und Lewis ist ein Mensch. Die Eigenschaft mit dem Wasser hast du von mir geerbt.“
Nadja saß staunend auf der Bank. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass so etwas auf einer ganz normalen Übernachtungsparty geschehen würde.
„Nun geht aber mal wieder in eure Betten, morgen können wir ausführlich darüber reden.“ Widerwillig gingen die beiden hoch, doch an Schlafen war nicht mehr zu denken. Sie dachten noch lange darüber nach, wie Merles Leben nun weitergehen würde und schliefen erst am frühen Morgen ein.
Als sie morgens runtergingen, um zu frühstücken, erschrak sich Nadja. „Oh nein, wir haben schon halb zwölf, ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich um viertel nach elf zuhause bin.“ Sie rief schnell ihre Mutter an und nach einigen Diskussionen durfte sie noch bis abends bei ihrer Freundin bleiben.
Nach dem Frühstück fuhren alle zusammen ans Meer. Als Merle das erste Mal komplett ins Meer eintauchte, fühlte sie Geborgenheit, Sicherheit und Freiheit. Im Meer fühlte sich sich sofort zu Hause. Am Ende entschloss sich Merle, immer wenn sie konnte, ihre Familie im Meer zu besuchen. Und manchmal, wenn Nadja Zeit hatte, kam sie auch mit. Allerdings hatte Nadja keine Kiemen, sondern nur eine Sauerstoffflasche.
Amelie und Louisa