Vor dem Bahnhof steht ein Polizeibulli. Fünf Männer vom Ordnungsamt sind auch da. Warum auch immer. Ich gehe durch die Fußgängerzone. Ganz wenige Menschen sind heute Nachmittag draußen, aber diejenigen, die mir begegnen, sind fast alle jung. Ich muss an Rees denken, wo ich vor kurzem auch für „Land in Sicht“ unterwegs war. Die einzigen Jugendlichen, die ich da traf, besuchten meinem Workshop, wurden hingebracht und wieder abtransportiert. Wesel ist anders. Ein Junge, höchstens 16 knattert lautlos auf einem zu großen E-Bike an mir vorbei. In Wesel fährt man Fahrrad. Jeder zweite Jugendliche sitzt auf einem schwarzen Hollandrad mit Gesundheitslenker. Aus einem Burgerladen schallt Hip-Hop-Musik nach draußen, „Burger Nerds“ heißt er. Es gibt einen „Humulupu Burger“ und einen, der sich „Vegan Fox“ nennt. Wesel scheint in der Gegenwart zu leben – die Gegenwart gibt sich unbeeindruckt: Ein Mädchen fährt vorbei, ihren Riesentornister hat sie im Fahrradkorb mit einer Riesenplastiktüte geschützt – oldschool – der Burgerladen ist leer.
An einer Bushaltestelle stehen zwei Mädchen. Ich traue meinen Augen nicht, erkenne eine Teilnehmerin des Reeser Workshops wieder. Ein Bus fährt vorbei, nimmt sie mit. Vergesse nachzuschauen, ob es der 82er war, hoffe es inständig. Ich überlege, mich im Café Extrablatt aufzuwärmen, mal hören, was das jugendliche Klientel hier so zu erzählen hat. Blöderweise senke ich den Altersdurchschnitt drinnen beträchtlich. Die Männer hier haben keine Haare, die Frauen weiße. Ich verschwinde wieder, gehe mal zu H&M. Seltsam leer hier. Nur vor der Damenumkleide tummeln sich ein paar Mädels, die sich lautstark austauschen. Näher rangehen kommt für mich nicht in Frage. Ein Mitdreißiger mit schütterem Haar und Schnurrbart, der jungen Mädchen an der H&M-Umkleide nachstellt. Ich sehe schon, die fünf Männer vom Ordnungsamt, wie sie mich raustragen und ich zappelnd versuche, mich loszureißen, dabei verzweifelt die Wahrheit herausbrülle: „Ich bin von Landinsicht! Ich wollte bloß zuhören! Glaubt mir doch!“ Ein Mädchen, ungefähr 16, schaut sich Brillantringe im Schaufenster eines Juweliers an, will vielleicht heiraten. In vier Stunden werde ich wieder hier vorbeigehen. Es wird dunkel sein, die Straße immer noch nass. Franz ist auch noch da. Die Schaufenster des Juweliers sind beleuchtet. Der Eingang auch. Ein Mädchen liegt hier auf dem Boden. Kreidebleich im Gesicht. Keine 18, schätze ich. Ihr Freund kniet vor ihr. Ihre Freundin telefoniert, trägt keine Jacke, hat das Mädchen damit zugedeckt.
„Was ist los?“, frage ich.
„Krankenwagen ist unterwegs“, sagt der Junge.
„Was hat sie?“
„Sie hat was genommen“, sagt er. „Jetzt schläft sie immer ein und ist so komisch.“
Ich frage, ob sie auch eine Jacke unter sich liegen hat. Der Boden ist zu kalt. Der Junge zieht seine Jacke aus und legt sie unter seine Freundin. Sie macht die Augen auf, die fallen schnell wieder zu. Blaues Licht flackert zwischen den Hauswänden der Fußgängerzone. Der Notarzt. Ausgang City, denke ich.
2/5 Fortsetzung folgt…
Tobias Steinfeld