Im Wad von Jessica aus Herzogenrath

Zu Beginn eine Frage: Kennst du Herzogenrath? Keine Sorge, es ist nicht schlimm, wenn du dieses kleine Städtchen, irgendwo am Arsch der Welt, weit im Westen von NRW, nicht kennst. Denn hier ist es ziemlich so wie überall auch, ein paar Geschäfte, Schulen und natürlich auch trostlose Blicke von Menschen, die an ihrem Alltag durch die Straßen wandern. Nichts an diesem Ort mag irgendwie besonders klingen, aber ich habe diesen einen, besonderen Ort gefunden.

Doch zuerst erzähle ich euch etwas über mich. Ich heiße Kati, eigentlich Katharina und bin 14 Jahre alt. Die Leute stufen mich als „verrückt“ ein und vielleicht bin ich das auch. Ich habe Dinge erlebt, die mir die anderen nicht glauben …

Es begann vor vier Jahren. Damals bin ich mit drei Freunden zu unserem Lieblingsort gegangen, wie schon tausende Male zuvor. Alles war wie immer. Wir sind die langen Straßen entlanggelaufen, an vielen Häusern vorbei mit unserem Eis in der Hand, das wir zehn Minuten zuvor in der Eisdiele gekauft hatten. Wir grüßten die paar Leute, die unseren Weg kreuzten. Als wir ankamen, breitete sich in unseren Gesichtern ein breites Lächeln aus und wir rannten alle gleichzeitig los. Ab in den Wald! Zu der Hütte, an der wir in unserer Freizeit bauten. Dort angekommen, bauten wir weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen wir uns erschöpft im Inneren der Hütte zu Boden sinken und aßen die von uns mitgebrachten Leckereien. Nach ein paar Stunden gingen wir mit zufriedenen Gesichtern nach draußen. Wir ließen dort Spiele, Snacks, Getränke und ein paar Werkzeuge liegen, in der Hoffnung, dass nichts geklaut würde. Wir gingen ein Stückchen an Bäumen, Sträuchern und kleinen Blümchen, die wir selbst mit großer Mühe eingepflanzt hatten, vorbei. Dabei verabredeten wir uns für den nächsten Tag um die gleiche Zeit in der Eisdiele. Jenny erklärte uns gerade, dass sie die letzten Wochen der Sommerferien nicht da wäre, als sie plötzlich über etwas stolperte und zu Boden fiel. Als sie sah, über was sie gefallen war, fing sie bitter an zu weinen. Die Jungs und ich schauten uns mit einer Mischung aus Ekel und Geschocktsein an. Jenny jedoch kriegte sich nicht mehr ein. Wir überlegten, was wir mit der Fuchsleiche machen sollten. Ja, richtig gehört. Es war ein toter, roter, flauschiger Fuchs, der uns regungslos angaffte. Wir konnten erst nicht wirklich glauben, dass er tot war, da er sehr saftig für seinen Zustand aussah. Ich war dafür, dass wir uns den Ort merkten, um unseren Eltern Bescheid zu sagen, denn mir war nicht ganz wohl bei der Sache. Jannik hatte jedoch eine andere Idee. Er nahm den Fuchs und schleifte ihn ein Stückchen hinter sich her. Norwin grub mit den bloßen Händen ein Loch, woraufhin Jannik kurze Zeit später den leblosen Körper reinschmiss.

Es wurde dunkel und wir rannten zum Waldrand. Doch zu unserer großen Verwunderung stand mitten im Weg ein großes Eisentor. Wir waren uns sicher, es noch nie zuvor gesehen zu haben. Wir fanden es unheimlich und rannten schneller, da schloss sich das Tor und wir waren gefangen. Wir rüttelten alle zusammen daran, doch es bewegte sich kein Stück. Hoffentlich würde uns jemand suchen, doch auch nach Stunden sahen wir keine Menschenseele. Mittlerweile war es stockdunkel und wir kauerten zusammen am Rand des Tores und hofften, am nächsten Tag einen Ausweg zu finden. Pure Verzweiflung machte sich in uns breit, doch nach einiger Zeit fielen wir alle in einen unruhigen Schlaf. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, kamen mir die Tränen. Wo waren die anderen? Ich war alleine und der letzte Hoffnungsschimmer erlosch. Vor Angst bekam ich keinen Mucks raus und rannte panisch zur Hütte. Vielleicht waren sie ja dorthin gelaufen, doch hier war auch niemand.

Mehrere Wochen vergingen, meine Situation wurde schlechter. Ich hatte Angst. Alle Snacks und Getränke, die noch in der Hütte waren, hatte ich mittlerweile aufgebraucht, außerdem so komische Beeren, von denen ich noch nicht mal wusste, ob sie giftig waren oder nicht. Ich stank und war mit den Kräften am Ende! Ich wusste nicht, wo meine Freunde waren und jede Menge Fragen bereiteten mir Kopfschmerzen. War ich verrückt geworden? Falls nicht, war ich auf dem bestem Wege dahin. Ich hörte Stimmen, Flüstern, vielleicht bildete ich es mir ein, aber trotzdem kam es mir sehr real vor. Ich wachte nachts in Schweiß gebadet auf. Aber auch als ich hellwach war, gingen die Stimmen nicht weg. Die Zeit verging und die Stimmen wurden immer lauter. Mittlerweile sah ich ab und zu ein helles Licht aufblitzen – ich konnte nichts dagegen tun. Ich wachte auf, die Stimmen, da waren sie wieder. Es tat so weh. Ich fasste mir an die Ohren und fühlte eine warme Flüssigkeit rauslaufen. Es war mein Blut. Was sagten sie? Ich konnte sie einfach nicht verstehen. Plötzlich hatte ich die Kontrolle über meinen Körper verloren, ich konnte nichts mehr machen, mich nicht nach meinem Willen bewegen, doch mein Kopf bekam alles mit. Ich sah durch meine Augen, wo ich hinwanderte, wie ein Zombie oder so.

Vielleicht wäre es besser zu sterben. So was durfte ich nicht denken, auch wenn meine Chancen im Moment nicht gut standen. Ich würde meine Freunde und Familie wiedersehen und hier verdammt nochmal raus kommen! Plötzlich stellte ich fest, dass ich fiel. Ich spürte nichts um mich herum, nur die Luft, die mich versuchte aufzufangen, was ihr leider nicht gelang, Ich fiel durch sie hindurch. Es war mitten in der Nacht. Stockdunkel. Nur die Sterne schimmerten am Himmel und der Mond sah mich magisch an. Vielleicht bildete ich es mir nur ein: Ich prallte auf, ohne einen Aufprall zu spüren.

Am Morgen hatte ich wieder volle Kontrolle über meinen Körper. Ich rieb mir den Kopf, der durch meinen stillen Aufprall sehr weh tat. Ich bemerkte sofort, wo ich war. Am Grab des Fuchses, den wir in das Loch, das direkt vor mir lag, gesteckt hatten. Er sah genauso aus wie vorher. Komisch, er war gar nicht verwest. Als ich nach vorne blickte, sprang mir direkt eine steinerne Platte ins Auge. Auf ihr stand fett mein Name und eine knappe Nachricht. Sie lautete: „Kati, bei Vollmond laufe zum Licht und bringe Opfer, um uns zu retten!“

Vollmond? Das war heute. Aber was sollte das heißen?

Als es Abend wurde und der Mond langsam aufging, wusste ich noch immer nicht, was ich machen sollte. Also entschied ich in Richtung Mond zu laufen, da er das hellste Licht war, welches ich finden konnte. Nach zwei Stunden kam ich am Eisentor an. Ich konnte es nicht überwinden. Hinter mir erschien ein grelles Licht, ich drehte mich ruckartig um und sah einen kleinen Lichtpunkt, der immer näher kam. Als er nur noch ein paar Meter entfernt war, formte er sich zu einem Fuchs. Ich traute meinen Augen nicht. Plötzlich hörte ich wieder die Stimme, die ich zuvor nie verstanden hatte. Das Flüstern kam aus der Richtung des Fuchses. Er hatte wahrscheinlich versucht, mit mir zu kommunizieren. Das klappte nicht ganz, da er ja eigentlich tot war und Tiere sowieso nicht sprechen konnten. Jetzt verstand ich ihn. Er sagte: „Wir sind vereinte Seelen und was dem einen passiert, muss auch dem anderen passieren, damit beide leben können.“

Ich nickte.

Er rannte direkt auf mich zu. Ruckartig sprang ich beiseite. Kurz bevor er ins Tor krachen konnte, löste er sich in Luft auf. Als ich das Tor mit meinem Zeigefinger antippte, fiel es ohne eine Vorwarnung zur anderen Seite und das Feld, was dort einst stand, verwandelte sich in eine tiefe Schlucht. Ich schaute hinunter, ich sah nichts, außer der Finsternis – unendliche Tiefe …

Ich musste springen. Ohne groß darüber nachzudenken, drehte ich mich um, breitete die Arme aus, kniff die Augen zusammen und ließ mich fallen.

Während des Falls erschien neben mir wieder das Licht, und ich hatte das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Es musste einfach sein. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Die Sonne ging bald auf. Bei Vollmond waren die Geister der Toten am stärksten und konnten sich verbinden und eine neue Kraft freischalten, welche stärker war als Raum und Zeit. So hatte ich es verstanden: Wäre ich dort geblieben, wäre ich nach dem ersten Vollmond gestorben. Es war meine einzige Chance.

Aufprall. Schmerz. Ich konnte nicht schreien, ich spürte nur noch, wie viel Blut meinen Körper verließ und, dass das kleine Licht in mich hineinflog. Alles wurde hell. Ich hatte kein Zeitgefühl mehr, doch plötzlich fühlte ich mich wieder ganz wie ich selbst. Wo war ich und vor allem: Wann passierte das, was gerade passierte?

Jenny erklärte uns gerade, dass sie die letzten Wochen der Sommerferien nicht da wäre und stolperte. Sie fing an zu weinen und ich hatte ein Déjà-vu.

Schmunzelnd half ich ihr hoch, sie war über ein Holzstück gefallen und nach einiger Zeit gingen wir endlich zurück zum Waldrand. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit.

Ich drehte ich mich noch ein letztes Mal um und entdeckte einen Fuchs, der mich ansah und kurz darauf fröhlich zurück in den Wald sprang.

Jessica