Es war still. Nur der Regen war zu hören, wie er mit seinen tausend Fingern sanft gegen meine Fensterscheibe klopfte. Ich schwang die nackten Beine über die Bettkante und trat ans Fenster. Ein grauer Himmel begrüßte mich sowie die grauen Häuser, die sich dicht an dicht reihten. Frau Dattel, meine Nachbarin, nicht halb so süß wie die Frucht, deren Namen sie trug, schlurfte, mit einer durchsichtigen Plastikhaube bestückt, durch die Straße, ihren Mops im Schlepptau. Ansonsten war es ruhig. Menschenleer.
Ich trat vom Fenster zurück und öffnete meinen überschaubaren Kleiderschrank. Im Gegensatz zu vielen anderen Mädchen besaß ich nicht viele Kleider. Keine Herausforderung, mein Outfit für den Tag zu wählen: Jeans, Pulli, Wollsocken.
Mit gesenktem Kopf lief ich am Spiegel in unserem Flur vorbei, klopfte, bevor ich die Treppe hinunter ins Wohnzimmer ging, an die Zimmertüre meiner kleinen Schwester, damit auch sie aus den Federn kam. Stumm begrüßte ich meine Eltern und setzte mich an den gedeckten Küchentisch. Wortlos nahm ich mir ein Brötchen, bestrich es mit Marmelade.
Mein Vater ließ die Zeitung sinken. „Gehst du heute zur Schule, Amelie?“
„Nein.“, murmelte ich. Ich musste nicht aufsehen, ich wusste auch so, dass mein Vater einen besorgten Blick mit meiner Mutter wechselte. Ich nahm mein Brötchen und rutschte vom Stuhl.
„Toni kommt heute Nachmittag, er bringt mir dann alles mit.“
Kauend auf dem Weg nach oben klopfte ich nochmal am Zimmer meiner Schwester. Dann ging ich ins Bad, um mir die Zähne zu putzen. Angestrengt hielt ich den Blick gesenkt. Doch wie jeden Morgen wusste ich, dass es unvermeidlich war.
Elender Spiegel…
Wie jedes Mal verkrampfte sich mein Magen zu einer Kugel, als ich mein Gesicht im Spiegel sah. Ein tiefroter Fleck verunstaltete die Haut um mein rechtes Auge herum. Ein weiterer Fleck zog sich vom Haaransatz über meine linke Wange hinunter bis zum Hals. Am liebsten hätte ich den Spiegel zerschlagen.
Obwohl mein Herz kalt war vor Hass – Hass auf mich selbst, auf mein Gesicht – schaffte ich es, den Blick abzuwenden, das Gesicht mit einem flauschigen Handtuch trocken zu reiben und aus dem Badezimmer zu gehen.
Es war Nachmittag, vielleicht drei, vier Uhr, als Toni an der Tür klingelte. Mein bester Freund seit Kindertagen – und der einzige, abgesehen von meiner Familie, bei dem ich es ertrug, mich zu zeigen. Ich begrüßte ihn und wir setzten uns an meinen Schreibtisch. Er erzählte mir den neusten Tratsch aus der Schule und dies und das, was in unserem Dorf so vor sich ging. Es geschah nichts, ohne dass jemand davon erfuhr und alle zerrissen sich die Mäuler, um jedes interessante Detail zu mitzubekommen. Ich hasste es, hier zu leben, hier, wo jeder jeden kennt.
„Ami, die Lehrer fragen schon nicht mehr nach dir.“ Toni war plötzlich ernst geworden und musterte mich aus seinen klaren grünen Augen.
„Wie lange warst du jetzt nicht mehr in der Schule?“
„Zwei Monate und sieben Tage.“
Das Datum war für immer in meinem Kopf eingebrannt. Der 30. Januar 2019.
In dieser Nacht gab es ein Gasleck, bis heute weiß niemand, wie es zustande gekommen ist. Ich war mit meiner 10-jährigen Schwester alleine, meine Eltern waren ausgegangen. Ich war noch wach, als ich den Rauch roch. Dann spürte ich die Hitze und rettete mich durch das Fenster. Jede Nacht träumte ich es, wieder und wieder, träumte, wie ich zurück ins Haus rannte, hustend und die Augen tränend, wie ich den Namen meiner Schwester schrie, versuchte, mir einen Weg an den Flammen vorbei über die Trümmer zu ihrem Zimmer zu bahnen. Ich fand sie, im Kleiderschrank, halb tot vor Angst. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es schaffte, uns beide hinauszubringen. Ich erinnere mich nur an die Hitze, den stechenden Rauch, den unfassbaren Schmerz in meinem Gesicht. An dieser Stelle wachte ich auf regelmäßig auf, schreiend. Die Erinnerung vor Augen. Jede Nacht.
„Hey!“ Toni stupste mich an und riss mich aus meinen Gedanken. „Hörst du mir überhaupt zu?“
„Ja, natürlich.“ Verlegen wickelte ich eine Haarsträhne um den Finger.
Toni seufzte. „Komm morgen, ja? Bitte, komm!“
„Nein.“ Ich schüttelte entschlossen den Kopf. „Ich kann nicht.“
„Alle wissen, was passiert ist. Alle kennen den Grund.“
Ich schnaubte. „Natürlich. Aber das ändert nichts an der Sache.“
„Doch. Niemand wird dich dafür verachten.“
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Ach ja? Darf ich dich an…“ Mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen, als ich an ihn dachte und ich presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
„Darf ich dich an Jeremy erinnern?“, beendete ich meinen Satz.
Toni vergrub den Kopf in den Händen.
„Ich hab dir doch gesagt, er ist ein Arsch.“, hörte ich ihn gedämpft.
Ja, er war ein Arsch. Ein Arsch von Freund. Ich brauchte ihn, brauchte ihn so sehr, doch er hat sich von mir abgewandt, hat mich verlassen. Ich sei hässlich. Er würde sich schämen, mich seine Freundin zu nennen. Mein verdammtes Herz hat das nicht verkraftet und trauerte ihm doch jede Sekunde nach. Toni war immer da, wenn ich ihn brauchte. Er war mein einziger Freund, der einzige, zu dem ich Kontakt suchte. Meine restlichen Freunde hatte ich von mir gestoßen. Ich wollte sie nicht, ich brauchte sie nicht.
„Also, kommst du morgen?“
Ich war immer noch entschlossen: „Nein.“
So ging das eine ganze Weile. Er nannte mir alle möglichen Argumente, ermunterte mich. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie schaffte er es, mich zu überzeugen. Es war mir klar, dass ich es vielleicht bereuen würde, aber ich musste es wenigstens versuchen. Als ich endlich zusagte, sprang Toni auf und gab einen kurzen Jubelschrei von sich. Lächelnd erhob ich mich auch und drückte ihm das Schulzeug in die Hand. Gut gelaunt gingen wir die Treppe hinunter und ich brachte ihn zur Tür. Er drehte sich mit einem Grinsen auf den Lippen zu mir um.
„Ich bin gut; das musst du schon zugeben.“
Ich lachte und umarmte ihn. „Ich hab dich lieb.“
Sein Lächeln wirkte seltsam gequält als ich von ihm abließ.
„Ich dich auch.“
Ich straffte die Schultern und sah in den Spiegel. Das Gesicht, was mich aus müden Augen anblickte, war immer noch kaum zu ertragen. Trotzdem schulterte ich meinen Rucksack und öffnete entschlossen die Tür. Der heutige Tag würde mein erster Schritt zurück in die Normalität sein. Vielleicht, ganz vielleicht, würde ich mich irgendwann damit abfinden können. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit empfand ich etwas, was ich fast vergessen hatte: Hoffnung. Es gab Hoffnung.
Als ich die Schule betrat, erwartete ich, dass alle aufblicken und mich anstarren würden, als wäre ich ein grünes Alien mit drei Antennen statt Haaren auf dem Kopf. Toni entdeckte mich zum Glück als erster und lief auf mich zu. Neben ihm fühlte ich mich direkt sicherer, als ich den Gang entlang schritt. Ich war nie jemand, der direkt aufgefallen wäre. Mich selber würde ich weder als besonders groß, aber auch nicht zu klein beschreiben. Ich war eben normal. Durchschnittlich. Bis auf die Narben im Gesicht. Und die waren es, die die Blicke der Leute auf sich zogen.
„Achte nicht auf sie.“, raunte Toni mir zu und öffnete seinen Spind.
Doch ich achtete auf sie, spürte die Blicke, sah, wie die Mädchen die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, wie die Jungs mich mit unverhohlener Abscheu musterten. Mein Mut verließ mich wieder. Ich gehörte hier nicht hin. Ich gehörte in mein Zimmer unter meine Bettdecke, wo mich niemand sah. Ich wollte umdrehen und gehen, doch Toni hielt mich am Handgelenk fest.
„Du gehst nirgendwo hin, außer in diese Klasse dort!“
„Nein…“, protestierte ich schwach, doch Toni zog mich mit sich. Einige Schüler waren schon da, standen zwischen oder saßen auf den Tischen und unterhielten sich. Hinter Tonis großer Gestalt konnte ich mich auf dem Weg zu seinem Platz gut verstecken. Einige begrüßten ihn. Als ihre Blicke auf mich fielen, schlich sich Überraschung in ihre Augen. Aber kein Entsetzen. Keine Abscheu. Vielleicht waren doch nicht alle so, wie ich dachte.
Mit gesenktem Kopf ließ ich mich auf meinen Platz neben Toni fallen und beugte mich hinunter, um meine Bücher aus der Tasche zu holen. Als ich aufsah, war der Klassenraum schon gut gefüllt und unsere Deutschlehrerin – eine junge Frau, die gerade ihr Referendariat beendet hatte – schwebte in den Raum. Als sie mich sah, hellte sich ihre Miene auf.
„Amelie, wie schön, dass Sie wieder da sind! Geht es Ihnen und Ihrer Familie wieder gut?“
Ich nickte und wand mich unter den vielen Blicken, die ihr Ausruf auf mich zog.
„Wie erfreulich! Kommt, lasst uns mit dem Unterricht beginnen!“
Der nächste Monat verlief erstaunlich gut. Außerordentlich gut sogar. Ich zog nicht mehr alle Blicke auf mich und hatte das Gefühl, dass ich mehr oder weniger akzeptiert wurde. Außerdem lenkte die Schule mich von meinem Herzschmerz ab und die Augenblicke, in denen ich Jeremy hinterhertrauerte wurden immer seltener. Vielleicht lag es auch daran, dass er in der nächsten Stadt wohnte und ich ihn so nie zu Gesicht bekam. Ich wurde mutiger, unbeschwerter und bald hatte ich meine alten Freunde zurückgewonnen. Trotzdem stand Toni immer bei erster Stelle. Er war der einzige gewesen, der immer für mich da war. Der einzige, dem ich voll und ganz vertraute. Der einzige, bei dem ich ich sein konnte.
Eines Tages – ich war gut gelaunt, weil es der dritte Tag in Folge war, an dem ich nicht schweißgebadet aus meinen Albträumen aufgewacht war – lud mich ein Mädchen zu ihrer Party ein. Ich war überrascht und ohne darüber nachzudenken, sagte ich zu. Toni war ebenfalls eingeladen und außerdem zwei andere Mädchen aus meiner Stufe, die ich aber nicht sonderlich gut kannte. Die anderen würden aus der Stadt kommen.
In der Nacht hielten mich nicht die Albträume wach, sondern die Angst vor der anstehenden Party. Es würden neue Leute kommen, sicher, Leute, die mich nicht kannten. Der einzige beruhigende Gedanke war der an die vielen Tuben Make-Up in meiner Kommode.
Ich war zuversichtlich, zog mich für meine Verhältnisse recht gewagt an und verbrachte eine ganze Stunde damit, mein verunstaltetes Gesicht mit Make-Up zu kaschieren. Toni holte mich ab, da er seit wenigen Wochen achtzehn war und unbedingt mit seinem neuen Auto durch die Gegend fahren wollte. Dass er deswegen keinen Alkohol trinken durfte, schreckte ihn offensichtlich nicht ab.
Die Gartenparty war schon im vollen Gange, als wir auf der Einfahrt parkten. Ein großes, hochmodern wirkendes Anwesen, keine armen Leute. Es war Ende Mai, angenehm warm, dumpfe Bässe begrüßten uns, als wir ausstiegen. Toni grinste mich an und ich hakte mich bei ihm unter. Als wir durch das Gartentor traten, blieb ich kurz stehen, um die Eindrücke auf mich wirken zu lassen. Es waren viele Gäste gekommen, die meisten mir unbekannt. Der große Garten war hübsch dekoriert, der Geruch von Bratwurst und Alkohol hing in der Luft. Meine Freundin, die mich eingeladen hatte, lief freudestrahlend auf mich zu.
„Hallo, Amelie!“ fiel sie mir um den Hals. „Toll, dass du gekommen bist! Du siehst wunderbar aus!“
Ihre Stimme war für mein Empfinden ein bisschen zu hoch und ihre Augen glänzten ein wenig zu sehr. Wahrscheinlich hatte sie schon ein paar Gläser Sekt intus. Ungestüm umarmte sie auch Toni.
„Kommt, kommt!“ Sie führte uns schnellen Schrittes ans Buffet, stellte uns ein Dutzend Leute vor und drückte uns schließlich zwei Sektgläser in die Hand.
„Habt Spaß!“, trällerte sie und war schon wieder im Gewimmel verschwunden.
Lächelnd sah ich ihr kopfschüttelnd hinterher und nahm einen großen Schluck aus dem Glas. Ich war wild entschlossen, an diesem Abend Spaß zu haben. Großen Spaß.
Es blieb nicht bei dem einen Sekt. Ein zweites, ein drittes, dazu zwei Bier und zwei Shots irgendeines hochprozentigen, ziemlich widerlich schmeckenden Gesöffs folgten. Dann zog ich Toni auf die Terrasse, auf der schon viele sichtbar angetrunkene Leute zu lauter Musik tanzten. Oder sie rieben sich aneinander, je nachdem, wie man es sehen wollte.
Schon benebelt vom Alkohol warf ich meinen Kopf hin und her, ließ die Musik meinen Körper regieren. Ich bekam nicht mit, wie ich von Toni abgedrängt wurde, andere mit mir tanzten oder mich in erster Linie angafften.
Auf einmal war ich umstellt von ein paar Typen, die deutlich älter als ich zu sein schienen. Sie sahen mich aus glänzenden Augen an, drückten ihre verschwitzten Körper an mich und wollten mit mir tanzen. Ich fühlte mich in die Enge getrieben, rief nach Toni. Plötzlich nahm mich einer der Jungen hoch, warf mich über seine Schulter, als wäre ich ein Sack Kartoffeln. Erschrocken schrie ich laut auf, doch der Alkohol verlangsamte meine Reaktion. Grölend und leicht taumelnd trugen mich die Jungs weg. Wohin, das wusste ich nicht. Ich war wie gelähmt, unfähig, mich zu bewegen, mich zu wehren. Bevor ich vollends realisierte, was mit mir geschah, flog ich schon durch die Luft, schrie erneut auf, dann schwappte kühles Wasser über mir zusammen. Augenblicklich vertrieb es die Benommenheit aus meinem Kopf. Instinktiv schlug ich mit den Beinen, um an die Oberfläche zu gelangen, tauchte prustend auf. Die Jungs grölten, klatschten sich gegenseitig auf die Schulter, ehe sie wieder zurück zur Tanzfläche torkelten. Niemand sonst hatte eingegriffen, war mir zu Hilfe gekommen. Voller Zorn schwamm ich zum Rand des Pools. Meine Kleidung klebte an mir, drohte mich durch ihr Gewicht wieder zurück ins Wasser zu ziehen, als ich an der Leiter aus dem Becken stieg.
Leise fluchend wrang ich meine Haare aus. Da hörte ich eine Stimme, die mir viel zu bekannt war. Erschrocken hielt ich inne, während mein Pulsschlag in die Höhe schoss. Ein helles Lachen ertönte. Ich hob den Kopf und erstarrte. Jeremy stand da, ein Mädchen an ihm hängend. Lange, braune Haare, eine viel zu kurze Hose. Ich schluckte schwer, als ich sah, wie er sie an sich zog und sie ungestüm zu küssen begann. Mein Herz schmerzte mit jedem Herzschlag mehr. Den Kopf gesenkt begann die Wiese entlang zu rennen, in der Hoffnung, dass die Dunkelheit mich einfach verschlucken würde. Durch jede Pore drang die Eifersucht in meinem Körper. Nur weg hier. Einfach nur nach Hause.
Als ich zurück zur Terrasse kam, blieb ich stehen, um nach Toni Ausschau zu halten. Dann spürte ich die Blicke auf mir. Ich blickte mich um und entdeckte entsetzte Gesichter, sie glotzten mich an, Abscheu stand in ihren Augen. Mich durchlief es heiß und kalt, als ich endlich verstand. Entsetzt rieb ich mir übers Gesicht und sah die braune Farbe meines Make-Ups an den Fingerspitzen. Verzweifelt rief ich Tonis Namen, versuchte, durch die Menge zu gelangen und die breite Gestalt meines besten Freundes zu erreichen. Endlich entdeckte ich ihn, gleich zwei Blondinen klebten an seiner Seite.
„Toni…“, meine Stimme zitterte.
Er sah mich irritiert an, dann verstand er, nahm meine Hand und zog mich weg von dem Gewühl.
„Was ist passiert?“
Die Musik und die lauten Stimmen drangen nur noch gedämpft zu uns hinüber.
Mit stockender Stimme berichtete ich ihm.
Plötzlich überschwemmten mich meine Gefühle, der Schmerz schien mich zu übermannen. Verzweifelt rutschte ich die Hauswand hinunter und presste die Hand auf den Mund.
„Ich, ich kann das nicht mehr!“, schluchzte ich und schlang die Arme um meine angezogenen Beine. „Ich will das nicht mehr.“
Toni hockte sich neben mich und legte eine Hand auf meine Schulter.
„Du schaffst das. Ich weiß, dass du das kannst, Ami.“
„Nein.“, ich schüttelte den Kopf. „Jeremy wird sich nie für mich interessieren! Nie!“
Kurze Zeit war Toni still.
„Warum er?“, fragte er leise. „Warum muss denn ausgerechnet er es sein?“
Überrascht sah ich auf und blickte ihn mit Tränen in den Augen an.
„Ich meine, warum hältst du noch an ihm fest? Er tut dir doch nur weh.“
„Weil…“ rang ich nach Worten.
Auf einmal sah Toni traurig aus. Unendlich traurig.
„Weißt du, es gibt noch andere Jungs, andere, die dich toll, nett und wunderschön finden.“
Ich gab ein freudloses Lachen von mir.
„Ach, und wer soll das bitte sein?“, fragte ich, die Stimme kalt, schneidend.
„Wer soll mich schon ‚toll‘ und ‚wunderschön‘ finden?“
Ich schüttelte den Kopf.
Plötzlich stand Toni auf, die Hände zu Fäusten geballt.
„Hör auf!“ Er schrie.
Die Tränen wegwischennd sah ich ihn an.
„Hör endlich auf, so eine Scheiße zu labern!“
„Toni, bitte, was ist denn…“
„Nein, kein Toni mehr! Ich…“ Er rang die Hände. „Ich will das nicht mehr!“
Wut überkam mich und ich sprang auf die Füße.
„Du willst das nicht mehr? Du willst nicht mehr, dass ich diese grässlichen Narben im Gesicht habe?“
„Nein, so meinte ich das natürlich nicht…“
„Ja, was dann?“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Warum bist du dann noch hier? Warum gibst du dich dann noch mit mir ab?“
Er sah mich irritiert an. „Warum sollte ich nicht…?“
„Was stört es dich dann, dass ich so von mir denke? Was stört es dich dann, dass ich Jeremy nicht vergessen kann und dass der Gedanke an ihn mir immer noch weh tut?“
„Weil du meine beste Freundin bist!“, schleuderte er mir entgegen.
„Weil du mir wichtig bist, weil ich nicht will, dass es dir schlecht geht, weil…“
Er brach ab und fuhr sich durch die Haare.
Ich versetzte ihm einen Stoß vor die Brust. „Weil was? Los,Toni, sag es mir!“
Er biss sich auf die Lippen. Ich stieß ihm nochmal vor die Brust, weil er nicht antwortete.
„Nun sag es doch endlich!“
„Weil ich dich liebe, verdammt!“
Ich trat einen Schritt zurück als hätte er mir einen Kinnhaken verpasst. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Wie blind ich gewesen war.
Leere, ungläubige Leere erfüllte mich.
Toni sah mich verzweifelt an, dann machte er einen schnellen Schritt auf mich zu, nahm mein Gesicht in beide Hände und drückte mich gegen die Hauswand. Dann küsste er mich.
Ich war wie erstarrt, unzählige kleine Stromstöße zuckten durch mich.
Sanft bewegte er seine Lippen gegen meine. Ich konnte nicht anderes, als seinen Kuss zu erwidern, mich mehr und mehr an ihn zu schmiegen und das Gefühl zu genießen, das er mir gab.
Geborgenheit, Vertrauen, Verliebtheit.
All das, was Jeremy mir nicht geben konnte.
Toni löste sich von mir, blieb aber mit seinem Gesicht ganz nah vor mir. Sanft strich er mit seinen Daumen die Tränen und die verlaufende Schminke von meinen Wangen. Ich lächelte und betrachtete ihn einfach nur, sah sein vertrautes Gesicht, sah es, wie ich es noch nie gesehen hatte.
„Irgendwie habe ich mir meine erste Liebeserklärung anders vorgestellt.“, sagte er leise und senkte seinen Blick auf meinen Mund.
Ich schlang die Arme um seinen Hals.
„Vielleicht wird deine Vorstellung irgendwann mal wahr.“
„Ganz bestimmt, es hat schon angefangen, Amelie!“
Ich zog ihn zu mir hinunter und unsere Lippen trafen sich wieder.
Manchmal ist dir das Glück so nah, so greifbar, dass du es glatt übersiehst. Manchmal sehnst du dich nach einem Glück, dass du dir herbei phantasiert hast, was aber in Wirklichkeit nur dein Unglück ist.
Nun sitze ich hier, meine Enkel spielen im Garten und ich betrachte sie durch das Fenster.
Hier und da liegt noch Schnee, es ist kalt, im Futterhäuschen sitzen ein paar Spatzen.
Der 30. Januar 2069.
Vor mir ein Blatt Papier, beschriftet mit tausenden von Buchstaben. Meine Geschichte. Schon seltsam, wie solch kleine Zeichen etwas so Wichtiges erzählen können.
Schmunzelnd beobachte ich meinen Mann. Sie haben einen Schneemann gebaut mit einer Möhrennase und Kohlenaugen, klemmen ihm den alten Besen noch unter und betrachten zufrieden ihr Werk.
60 Jahre, denke ich. Eine lange Zeit. 60 Jahre geliebt und gelebt.
Mein Blick fällt auf einen kleinen Spiegel, der auf der Fensterbank steht.
Ein altes, faltiges Gesicht blickt mir entgegen. Ein Gesicht mit roten, großen Narben.
Und ich lächele.
Katharina