Viele Fahrräder vor dem Gebäude des Musikschulkreises, alle von den Kindern aus der Schule nebenan. Wer nicht den Schulbus nutzt, besteigt das eigene Stahlross. Pferdeland Münsterland. Taxi MamaPapa geht auch. Auf der ersten Etage der Musikschule müht sich jemand an der Trompete. Einzelne Töne, klagend, schnell verwehend, neuer Ansatz. Wohin wird der Weg gehen? Schulorchester, Schützenverein, Jazzband oder alles auf einmal? Ist Trompete cool, cooler als Gitarre, Keyboard, Bass oder Schlagzeug? Die Kirchturmuhr von Lüdinghausen, der Stadt der drei Wasserburgen, schlägt zwei Uhr.
Zur Trompete gesellt sich nun ein Klavier. Zwei Moll-Akkorde, absteigend. Könnte auch eine Passage aus Miles Davis´ „Bitches Brew“ sein, dem Hexengebräu. Nachdem Ludinchusen erstmals um 800 erwähnt wurde, gab es Anfang des 17. Jahrhunderts hier Hexenprozesse, schreibt ein Chronist. Eine Mutter mit zwei Kindern an der Hand und einem auf dem Arm eilt durch die Eingangstür und die Treppe zu den Unterrichtsräumen hinauf. Das Haus wirkt hell, klar, luftig, schöne Stuckdecken, alles aufwendig renoviert. Neben den Fahrrädern, vor dem kleinen Kanal, stapeln sich abgeschnittene Äste und zersägte Baumstämme, vielleicht schon für das Osterfeuer. Leicht bewölkt, elf Grad lese ich auf der Infotafel neben dem Raumbelegungsplan.
Nebenan stimmt ein junger Mann sein Cello. Kammerton A. Worauf ist Lüdinghausen gestimmt, frage ich mich. Touristen, Senioren, Jugend, Zukunft, Tradition, Innovation, Strukturwandel. Werden die jungen Leute, die ich heute zu befragen hoffe, hier bleiben wollen oder suchen sie schnell das Weite? Was muss man ihnen bieten, damit sie nicht gehen? Gibt es einen Plan dafür?
Das Cello arbeitet sich, nun wohlgestimmt, in tiefe Lagen, der Bogen streicht über die Saiten, die Töne korrespondieren plötzlich mit einer strahlend geblasenen Trompete aus dem ersten Stock. Holz und Metall, streichen und die Lippen anspannen. Ein Cello passt nicht so gut zum Schützenfest, denke ich mir.
Im Herbst soll endlich das Kino fertiggestellt sein, meint M. aus Nordkirchen, der Nachbargemeinde. Einmal monatlich fährt sie nach Münster zu den „Fridays for Future“-Demos, fünfundvierzig Minuten mit dem Zug. Sie ist fünfzehn und will später auf jeden Fall in die Stadt ziehen, sagt sie mir. Da sei sie unabhängiger. Das Land biete Vorteile, sicher. Wenig Verkehr, viel Natur. Es gebe die Musikschule, eine Ballettschule, den Tennisverein, auch einen Jugendtreff, ja, den auch, aber da gehe sie nicht hin. Der Bus nach Nordkirchen fahre stündlich, aber nur bis 19 Uhr. Danach Taxi Mama, wenn sie sich abends mit Freundinnen und Freunden treffe.
Lachen, Stimmengewirr, Klappern von draußen. Schulschluss. Die Reiterinnen und Reiter erklimmen ihre Rösser, streben in alle Richtungen auseinander. Kleinere Grüppchen lösen sich auf. Ja, bis morgen, ich ruf dich gleich an. Außerdem lebe sie ja möglichst plastikfrei, ergänzt M. und achte darauf, wenig Verpackungsmüll zu produzieren. Eine junge Dame, die zweifellos noch etwas vor hat. Auch jetzt. Sie gebe noch Nachhilfe, sagt sie mir und verabschiedet sich.
H. spielt Fagott. Im Verein mitmachen, natürlich gehe das, muss aber nicht. Ihre Eltern seien schon viel gereist, häufig umgezogen. Wahrscheinlich werde sie das auch tun. Man könne hier gut aufwachsen. Für Kinder sei das toll, in fünf Minuten im Grünen zu sein. In Lüdinghausen fühle sie sich sicherer als in einer Großstadt. Sei doch gut, wenn jeder jeden kennt. Man könne aber auch anonym bleiben, für sich sein. Das mache einen ja nicht zum Außenseiter. Drogenprobleme – nein, hier nicht. In Telgte schon, so habe sie es gehört. Für die neu gebildete Migrantenklasse habe man Sozialarbeiter einstellen müsse, das sei nicht wie erhofft gelaufen. Die Dazugezogenen könne man oft in der „Blaupause“ treffen, einer Kneipe. Kulturangebote gebe es, auf jeden Fall. Und Treffpunkte wie das Cafe am Markt und im Sommer die Eisdiele. Alle zwei Monate gebe es Stufenparties, da kämen dann alle hin. Shoppen sei in der Stadt besser.
Ich treffe L., den Trompeter. Er macht einen entspannten Eindruck und will hier wohnen bleiben. Der Nahverkehr, das stimmt, sicher nicht der beste. Aber er kaufe eh nur wenig, das könne er auch in Münster erledigen. Für ihn und seine Leute sei Meckes der Hotspot, so ab sechs Uhr. Alles sei überschaubar, meint er. Und der Fußballverein eine gute Chance zum Aufbau von Kontakten. Ob Trompete cool sei und man damit bei den Girls punkten könne, frage ich ihn nicht mehr.
„Vieles dauert hier zu lange. Das Kino, das neue Schwimmbad. Erst hatte ich den Wunsch nach Stadt. Dann wohnte ich in der Stadt und wollte wieder hier her, konnte dann erst schätzen, was ich hier habe. Die Natur ist so nah. In der Stadt gibt es überall Menschen, man hat keine Ruhe. Mit dem alten Schwimmbad kann ich auch leben, im Sommer treffen wir uns sowieso lieber am Kanalufer. Nein, ich bleibe hier. Auch wegen der Kinder, die haben hier mehr Freiheiten. (L., 17 Jahre)
Fünf Freundinnen, von denen einige sich schon aus dem Kindergarten kennen:
„Hier fährt ja gefühlt nach 17 Uhr nichts mehr. Dann organisieren wir das mit unseren Müttern. Die wechseln sich dann ab. Wer gerade Zeit hat.“
„Oder wir nehmen das Rad.“
„Ja, klar, das geht natürlich auch.“
„Wenn man, so wie ich, mitten in der Stadt wohnt, ist es auch easy. Im Dunkeln? Nein, da habe ich keine Angst. Wovor sollte ich Angst haben?“
„Bei den Landjugend-Partys, die ja meist in einer Scheune sind, irgendwo auf einem Bauernhof, organisieren wir das mit dem Heimweg. Eine Mutter oder ein Vater bringt uns hin, jemand anders holt uns ab. Geht ja nur so.“
„Wir lassen auch niemand alleine durch die Nacht laufen, da geht immer jemand mit. Bis zur Haustür.“
„Sicher, so ist das hier.“
A. sagt, hier gebe es doch alles Nötige. Geschäfte, Cafes, Eissalon. Alles, was sie brauche, finde sie hier. Nach Münster fahre ja alle halbe Stunde ein Bus. Ganz einfach. Klar dürfe sie alleine nach Münster, sie sei ja schon sechzehn. Die Kreise seien hier eher geschlossen, aber auch offen für neue Leute, wenn man sich ein bisschen Mühe gebe. Viele Kontakte zu haben sei doch prima, so eine Kleinstadt sei sozialer und offener. Ihre Zukunft liege auf jeden Fall hier. Nach der Schule zur Uni, in eine Stadt, aber danach wieder hierher zurück.
E. ist dreizehn und erledigt alle Wege mit dem Rad oder zu Fuß. Schon früh konnte sie alleine los, auf Entdeckungsreisen gehen. Man ist ja auch schnell dort, wo man hin will. Kleinstadt eben. Ihre Leute trifft sie an verschiedenen Treffpunkten. Mehrere Freundesgruppen, man müsse sich eben vorher verabreden, flexibel sein.
Aldenhövel, Bechtrup, Berenbrock, Brochtrup, Dorfbauerschaft, Elvert, Enkum, Ermen, Leversum, Ondrup, Reckelsum, Tetekum, Tüllinghoff und Westrup heißen die Stadtteile. „Willkommen in der Idylle“ steht auf einem Schild in der Schrebergartensiedlung, „Aus Liebe zum Eigenen“ auf einem Aufkleber, dem einzigen, den ich in der Wasserburgenlandschaft entdecken kann. „Zuhause ist es am schönsten“. Keine Spuren von Vandalismus, noch nicht mal weggeworfene Zigarettenkippen. Lässt man es schön, wenn es schon schön ist? Ich glaube ja.
Die meisten der Fünfundzwanzigtausend sind katholisch, die CDU die größte Fraktion im Stadtrat. Es gibt noch eine evangelische, neuapostolische und eine freikirchliche Gemeinde, die Zeugen Jehovas und auch eine Moschee. Dienstags und freitags ist Wochenmarkt. Auf der Schautafel vor dem Rathaus überwiegen die Mitteilungen für Senioren. Bei Seppenrade, erst spät eingemeindet, liegt ein Industriegebiet mit dem 1964 gegründeten Maggi-Werk, davor steht im Kreisverkehr an der Bundesstraße die größte Maggi-Flasche der Welt. Im Stadtwappen die Glocke als Zeichen des letzten Ritters von Burg Lüdinghausen und ein Ammonit. Hier wurde einst der größte aller Zeiten gefunden, fast zwei Meter groß und siebzig Zentner schwer. Denn früher wogte hier ein Meer. Heute wiegen sich Mais, Raps, Weizen und viele junge Menschen, denen es hier gefällt, die sich zu ihrer münsterländischen Heimatstadt bekennen.
An der Bergstraße gibt es einen Stuhl für das Glück. Viele machen hier einen glücklichen Eindruck. Es liegt kein Müll herum, es sind keine Graffiti zu sehen, noch nicht mal in der großen Wasserburgenlandschaft, die sich im Westen der Stadt entlang zieht. Pferdewiese, Schrebergarten, eine Brutstelle für Gänse. Die schmucke Stadt scheint nicht nur für Zugvögel eine gute Wahl zu sein. Zwei Bundesstraßen kreuzen sich hier, am Stadtrand verläuft der Dortmund-Ems-Kanal. Mit einem Boot könnte man von hier bis bis zur Nordsee gelangen. Das Land ist flach, die Strömung träge. Im städtischen Mietpreisspiegel kosten selbst Neubauwohnungen höchstens 7,85 € Kaltmiete pro Quadratmeter. Hier lässt sich´s leben. „Ich werde Rechtsmedizinerin“ sagt K. Ich denke an Frau Alberich vom Münsteraner Tatort. T. und ihre Freundin T. wollen aber lieber weg. Für J. ist Lüdinghausen genau richtig. Das ist es für die meisten von denen, die ich gefragt habe.
Im Hinausgehen höre ich den Chor der Musikschule durch das weit geöffnete Fenster. Sie singen „Always Look On The Bright Side Of Life”.
Epilog
In der Pizzabude neben der Bundesstraße:
Das Telefon klingelt. Auf Lautsprecher. Ich kann mithören.
„Pizzeria…“
„Wo ist Chef?“
„Weg.“
„Wie…weg?“
„Na, weg. Spazieren gehen.“
„Spazieren gehen?“
„Ja. Mit Fahrrad.“
„Mit Fahrrad?“
„Ja, mit Fahrrad.“
„Wie lange schon weg?“
„Zehn Minuten.“
„Mit Fahrrad?“
„Ja.“
„Ruf ihn an.“
„Wenn du meinst…“
Fünf Minuten später öffnet sich die Tür.
„Wo warst du, Chef?“
„Spazieren.“
„Mit Fahrrad?“
„Ja, mit Fahrrad.“
„Is gut, ich dachte schon, es wär´ was.“
„Nein, is nix. Komm, mach mir Pizza.“
Michael Schumacher